Ich bin schon mehr als fünfzehn Jahre lang Nichtraucher, trotzdem neble ich zur Zeit ein wenig vor mich hin, wenn ich mein Hustenstiller-Elixier inhaliere. Draußen ist es auch neblig, da möchte man das Gehäuse nicht verlassen, die feuchte Kälte fährt einem in die Knochen, wenn man im letzten Lebensdrittel herumirrt.
Ich bin derzeit mit irgendeiner Form der Influenza infiziert, das lässt sich nicht verleugnen. Wer meine Stimme kennt und mich jetzt am Telefon hört, der glaubt Arnie ruft an. Aber ich will nicht herumjammern, ich möchte heute eher einen traurig tiefsinnigen und gleichzeitig ermutigenden Text aus Anne Franks Tagebuch teilen, ihren letzten Tagebucheintrag - um genau zu sein - vom ersten August 1944. Mir ist er ans Herz gewachsen und ich denke, den meisten erwachten Menschen gleichermaßen."Ich habe schreckliche Angst, dass alle, die mich so kennen, wie ich immer bin, entdecken, dass ich eine andere Seite habe, eine schönere und bessere Seite. Ich habe Angst, dass sie mich auslachen, mich für lächerlich und sentimental halten und mich nicht ernst nehmen. Ich bin daran gewöhnt, nicht ernst genommen zu werden, aber nur die "unbeschwerte" Anne ist daran gewöhnt und kann es ertragen; die "tiefere" Anne ist zu zerbrechlich dafür. Manchmal, wenn ich die gute Anne wirklich zwinge, eine Viertelstunde lang die Bühne zu betreten, schrumpft sie einfach zusammen, sobald sie sprechen muss, und überlässt Anne Nummer eins den Vortritt, und ehe ich mich versehe, ist sie verschwunden.Die nette Anne ist also nie in Gesellschaft anwesend, ist bisher kein einziges Mal aufgetaucht, sondern überwiegt fast immer, wenn wir allein sind. Ich weiß genau, wie ich gerne wäre, wie ich innerlich auch bin.... Aber leider bin ich nur für mich selbst so. Und vielleicht ist das der Grund, nein, ich bin mir sicher, dass das der Grund ist, warum ich sage, dass ich innerlich ein glückliches Wesen habe und warum andere Leute denken, dass ich äußerlich ein glückliches Wesen habe. Ich lasse mich von der reinen Anne im Innern leiten, aber nach außen hin bin ich nichts weiter als eine ausgelassene kleine Ziege, die sich losgerissen hat.
Wie ich schon gesagt habe, spreche ich nie meine wahren Gefühle aus, und so habe ich mir den Namen Verfolgerin, Flirt, Besserwisserin, Leserin von Liebesgeschichten erworben. Die fröhliche Anne lacht darüber, gibt freche Antworten, zuckt gleichgültig mit den Schultern, tut so, als sei es ihr egal, aber, oh je, die stille Anne reagiert genau umgekehrt. Wenn ich ganz ehrlich bin, dann muss ich zugeben, dass es mir weh tut, dass ich mich furchtbar anstrenge, mich zu ändern, aber dass ich immer gegen einen mächtigeren Feind kämpfe.
Eine Stimme schluchzt in mir: "Da hast du es, das ist aus dir geworden: du bist lieblos, du wirkst hochmütig und mürrisch, die Leute mögen dich nicht und das alles nur, weil du nicht auf den Rat hörst, den dir deine eigene bessere Hälfte gibt." Oh, ich würde gerne zuhören, aber es funktioniert nicht; wenn ich still und ernst bin, halten das alle für eine neue Komödie, und dann muss ich mich daraus befreien, indem ich einen Witz daraus mache, ganz zu schweigen von meiner eigenen Familie, die sicher denkt, dass ich krank bin, mich zwingt, Tabletten gegen Kopfschmerzen und Nervenschäden zu schlucken, meinen Nacken und meinen Kopf abtastet, um zu sehen, ob ich Fieber habe, mich fragt, ob ich Verstopfung habe, und mich dafür kritisiert, dass ich schlechte Laune habe. Das kann ich nicht durchhalten: Wenn ich so beobachtet werde, werde ich erst bissig, dann unglücklich, und schließlich verdrehe ich mein Herz wieder, so dass das Schlechte außen und das Gute innen ist, und versuche immer wieder, einen Weg zu finden, das zu werden, was ich so gerne wäre und was ich sein könnte, wenn ... es keine Menschen auf der Welt gäbe."
~ Anne Franks Tagebucheintrag vom 01.08.1944
Dies ist der letzte Eintrag im Tagebuch. Das Versteck von Annes Familie wurde einige Tage später von der Gestapo entdeckt. Sie selbst starb am 20. Februar 1945 im Konzentrationslager Belsen an Typhus.